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Das Recht der Palästinenser auf Selbstverteidigung

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Von Chris Hedges
truthdig, 23.07.14
Der US-Journalist Chris Hedges begründet das nach Artikel 51 der UN-Charta "naturgegebene Recht" der Palästinenser auf Selbstverteidigung.

Wenn Israel wie die bosnischen Serben in Sarajevo hochtechnisierte Kriegswaffen gegen eine wehrlose Zivilbevölkerung einsetzt, (s. hier) dann hat die angegriffene Zivilbevölkerung nach Art. 51 der UN-Charta das naturgegebene Recht zur Selbstverteidigung. Die internationale Gemeinschaft muss entweder sofort eingreifen, um die israelischen Angriffe zu stoppen und die Blockade Gazas zu beenden, oder sie muss das Recht der Palästinenser anerkennen, sich selbst mit Waffen zu verteidigen.

Kein Staat der Welt, einschließlich der islamischen Staaten, scheint dazu bereit zu sein, die Palästinenser zu schützen. Keine Organisation der Welt, einschließlich der Vereinten Nationen, scheint bereit oder fähig zu sein, Israel durch Sanktionen unter Druck zu setzen, damit es sich an die Normen des Völkerrechts hält. Und je länger die Weltgemeinschaft zögert, einzugreifen, desto schneller wird sich die Spirale der Gewalt drehen.

Cartoon: Carlos Latuff
Mutter Palästina sagt: Raus aus meinem Land!
Wikimedia, Free Art License
Israel hat nicht das Recht, 1.000-Pound-Splitterbomben auf Gaza abzuwerfen. Es hat auch nicht das Recht, Gaza mit schwerer Artillerie und Schiffsgeschützen zu beschießen. Es hat nicht das Recht, mit motorisierten Bodentruppen in Gaza einzufallen und dort Krankenhäuser [s. hier], Schulen und Moscheen oder die Versorgungssysteme für Wasser und Strom zu zerstören. Es hat auch nicht das Recht, mehr als 100.000 Menschen aus ihren Häusern zu vertreiben. Die komplette Kontrolle, die Israel zu Lande, zu Wasser und in der Luft über Gaza ausübt, ist völkerrechtswidrig.

Gewalt ist auch dann, wenn sie zur Selbstverteidigung ausgeübt wird, ein Fluch. Sie verschafft den Skrupellosen die Macht zur Unterdrückung der Wehrlosen. Sie hinterlässt schreckliche emotionale und physische Narben. Während des Bosnien-Krieges in den 1990er Jahren habe ich in Sarajevo aber lernen müssen: Wenn du von Streitkräften angegriffen wirst, die dich vernichten wollen, und niemand dir zur Hilfe kommt, musst du dich selbst verteidigen. Als Sarajevo im Sommer 1995 täglich von 2.000 Granaten getroffen und ständig von Scharfschützen unter Feuer genommen wurde, konnte ich keinem der leidenden Bosnier mit gewaltlosem Widerstand kommen. Keiner von ihnen hielt das Waffenembargo, das die UNO der bosnischen Regierung auferlegt hatte, angesichts des ständigen Beschusses durch Scharfschützen und angesichts der 90-mm-Panzergeschosse und 155-mm-Haubitzengranaten, die Tag und Nacht auf die Stadt niedergingen, für angebracht. Die Bosnier konnten – wie die Palästinenser in Gaza – nur leichte Waffen durch geheime Tunnels in die Stadt schmuggeln. Ihre Feinde, die Serben, wollten – wie die Israelis in dem gegenwärtigen Konflikt – diese Tunnels zerstören. Die bosnischen Verteidiger von Sarajevo versuchten mit ihren spärlichen Waffen verzweifelt, die Grabenstellungen rings um ihre Stadt zu halten. Das ist in Gaza ziemlich ähnlich. Nur durch die wiederholten NATO-Luftangriffe im Frühjahr 1995 konnte verhindert werden, dass die von den Bosniern verteidigten Gebiete von den vorrückenden Serben überrannt wurden. Die Palästinenser können aber nicht mit einem ähnlichen Eingreifen rechnen.

Die Anzahl der bei dem israelischen Angriff auf Gaza Getöteten ist auf über 650 angestiegen, und etwa 80 Prozent davon sind Zivilisten. Über 4.000 Palästinenser wurden verwundet, und sehr viele davon sind Kinder. (Das sind noch die relativ niedrigen Zahlen vom 23.07.14, viel höhere Zahlen sind einem Artikel von Evelyn Hecht-Galinski zu entnehmen.) Wie hoch muss die Anzahl der getöteten und verwundeten Palästinenser noch steigen, bis sie sich selbst verteidigen dürfen – auf 5.000, 10.000 oder 20.000? Wann ist der Punkt erreicht, ab dem den Palästinensern das elementare Recht zugestanden wird, ihre Familien und ihre Häuser zu schützen?

Art. 51 (der UN-Charta) lässt diese spezifischen Fragen offen, aber der Internationale Gerichtshof hat sie in dem Verfahren Nicaragua gegen die USA beantwortet. Das Gericht hat in diesem Fall befunden, dass ein Staat einen bewaffneten Angriff (eines anderen Staates) erleiden muss, bevor er zur Selbstverteidigung greifen darf. Nach der Definition eines bewaffneten Angriffs, gehört dazu neben dem "Überschreiten einer international anerkannten Grenze durch reguläre Streitkräfte" auch die "Entsendung oder Förderung bewaffneter Banden, Söldner oder irregulärer Kämpfer, die Gewaltakte gegen einen Staat begehen". Das Gericht hat auch festgehalten, dass jeder (angegriffene) Staat erst die Vereinten Nationen um Beistand ersuchen muss, bevor er selbst zur bewaffneten Selbstverteidigung schreiten darf. Nach Art 51 der UN-Charta endet das Recht eines Staates auf Selbstverteidigung, wenn "der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen" getroffen hat.

Das Versäumnis der internationalen Gemeinschaft, (auf Hilferufe) zu reagieren, hat den Palästinensern keine andere Wahl gelassen. Die USA haben seit der Errichtung des Staates Israel im Jahr 1948 durch ihr Veto im UN-Sicherheitsrat mehr als 40 Resolutionen scheitern lassen, mit denen der Drang Israels zur Besetzung palästinensischer Gebiete und zur Gewalt gegen die Palästinenser gezügelt werden sollte. Und Israel hat die wenigen erfolgreichen Resolutionen, mit denen man die Rechte der Palästinenser zu schützen versuchte – wie zum Beispiel mit der Resolution 465 des UN-Sicherheitsrates von 1980 – einfach ignoriert.

In der Resolution 465 (englischer Text) wird festgehalten, dass die "Vierte Genfer Konvention über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten vom 12. August 1949 auch auf die arabischen Territorien einschließlich Jerusalems, die Israel seit 1967 besetzt hält, anwendbar ist". In der Resolution wird festgestellt, dass "alle durch Israel ergriffenen Maßnahmen zur Veränderung der physischen und demografischen Zusammensetzung, der Institutionen oder des Status der seit 1967 besetzten palästinensischen und anderen arabischen Territorien einschließlich Jerusalems oder jedes Teils davon keine gesetzliche Gültigkeit haben"; außerdem wird darin erklärt, "dass Israels Politik gegen die Vierte Genfer Konvention über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten verstößt und dass seine Praxis, Teile seiner Bevölkerung oder neue Einwanderer in diesen Territorien anzusiedeln, ein ernsthaftes Hindernis für das Erreichen eines umfassenden, gerechten und anhaltenden Friedens im Mittleren Osten ist".

Als Besatzungsmacht verstößt Israel ständig gegen den Art. 3 der Vierten Genfer Konvention über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten. Diese Konvention legt die minimalen Standards für den Schutz von Zivilisten in einem Konflikt fest, der nicht international ist.

Artikel 3 (1) lautet:
"Personen, die nicht direkt an den Feindseligkeiten teilnehmen, einschliesslich der Mitglieder der bewaffneten Streitkräfte, welche die Waffen gestreckt haben, und der Personen, die infolge Krankheit, Verwundung, Gefangennahme oder irgendeiner anderen Ursache ausser Kampf gesetzt wurden, sollen unter allen Umständen mit Menschlichkeit behandelt werden, ohne jede Benachteiligung aus Gründen der Rasse, der Farbe, der Religion oder des Glaubens, des Geschlechts, der Geburt oder des Vermögens oder aus irgendeinem ähnlichen Grunde.

Zu diesem Zwecke sind und bleiben in bezug auf die oben erwähnten Personen jederzeit und jedenorts verboten:

  • a. Angriffe auf Leib und Leben, namentlich Mord jeglicher Art, Verstümmelung, grausame Behandlung und Folterung;
  • b. die Gefangennahme von Geiseln;
  • c. Beeinträchtigung der persönlichen Würde, namentlich erniedrigende und
    entwürdigende Behandlung;
  • d. Verurteilungen und Hinrichtungen ohne vorhergehendes Urteil eines ordnungsmässig bestellten Gerichtes, das die von den zivilisierten Völkern als unerlässlich anerkannten Rechtsgarantien bietet."
Der Art.3 (2) lautet:
"Die Verwundeten und Kranken sollen geborgen und gepflegt werden."
(Der Art. 3 (1) und (2) wurden wörtlich zitiert nach http://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19490188/index.html

Israel hat nicht nur die Bestimmungen des Artikels 3 (der Vierten Genfer Konvention) verletzt, sondern auch alle Kriterien erfüllt, die nach Art 51 (der UN-Charta) einen Aggressorstaat definieren. Das Völkerrecht ist Israel und den USA ziemlich gleichgültig. Die US-Regierung hat das Urteil des Internationalen Gerichtshofs im Verfahren Nicaragua gegen die USA einfach ignoriert, weil sie – wie Israel – dessen Rechtsprechung nicht anerkennt. Es ist auch nicht von Bedeutung, wie viele Palästinenser getötet oder verwundet werden, wieviele palästinensische Häuser zerstört werden, wie schrecklich die Armut in Gaza oder im Westjordanland ist, wie viele Jahre die Blockade Gazas bereits andauert oder wie viele israelische Siedlungen noch auf palästinensischem Territorium gebaut werden, weil Israel unter dem Schutz der USA ungestraft tun und lassen kann, was es will.

Das einstimmige Votum des US-Senats zur Unterstützung der israelischen Angriffe auf Gaza [s. hier], das sklavische Nachplappern der israelischen Propaganda durch die Mainstream-Medien und die ständige Wiederholung pro-israelischer Klischees durch die Obama-Regierung haben die USA zu Komplizen der israelische Kriegsverbrechen gemacht. Mit jährlich 3,1 Milliarden Dollar Militärhilfe für Israel finanzieren und ermöglichen wir diese Verbrechen. Wir sind für das Abschlachten (der Palästinenser) mitverantwortlich. Niemand aus dem US-Establishment, auch nicht unser liberalster Senator Bernie Sanders, wagt es, sich der Israel-Lobby zu widersetzen. Und da wir uns weigern, selbst zu handeln, um (den Palästinensern) Frieden und Gerechtigkeit zu verschaffen, dürfen wir uns nicht wundern, wenn die Palästinenser bewaffneten Widerstand leisten.

Die Palästinenser, werden sich, so lange sie können, nicht auf eine Waffenruhe einlassen, die nicht auch die Aufhebung der israelischen Blockade Gazas einschließt. Sie haben die Hoffnung verloren, dass sich ausländische Regierungen irgendwann doch noch für sie einsetzen werden. Sie wissen, dass ihr Schicksal in ihren eigenen Händen liegt. Mit ihrer Revolte in Gaza wollen sie an die Solidarität der Welt außerhalb ihrer Mauern appellieren. Es ist der Versuch, angesichts schreiender Ungerechtigkeit und unerträglicher Lebensbedingungen die Würde und die Handlungsfähigkeit des palästinensischen Volkes zu bewahren. Den Palästinensern bleibt kaum eine andere Wahl als die ihres Todes. Viele Palästinenser, besonders die jungen Männer, die arbeits- und würdelos in überbelegten Wohnungen hausen, ziehen einen schnellen Tod dem langsamen, demütigenden Tod unter israelischer Besetzung vor.

Ich kann sie dafür nicht verurteilen.

Übersetzung: Wolfgang Jung, luftpost-kl.de

Nachtrag 11.08.14, 10:42 Uhr
UN-Bericht: 456 Kinder durch israelische Angriffe auf Gazastreifen getötet. 1.948 Palästinenser getötet, davon 1402 Zivilisten. Auf israelischer Seite sind 64 Soldaten und drei Zivlisten ums Leben gekommen. Quelle IRIB


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