Der russische Politikwissenschaftler Sergei Markow erläutert die Situation auf der Krim und in der Ukraine aus russischer Sicht.
Von Sergei Markow The Moskow Times, 27.03.14 Bild: Wikipedia, Creative Commons |
In einem Gespräch mit dem US-Präsidenten Barack Obama sagte die deutsche Kanzlerin Angela Merkel vor einigen Wochen, sie habe den Eindruck, Präsident Wladimir Putin lebe in einer anderen Welt.
Diese Äußerung wurde schnell von den westlichen Medien aufgegriffen und beherrschte mehrere Tage lang die Schlagzeilen.
Frau Merkel scheint das wirklich so empfunden zu haben, weil (sie und andere) westliche Beobachter Russlands realistische Sicht der Dinge nicht verstehen.
Wie sieht Russland die Realität? Was den Charakter der Konflikte um Krim und Ukraine angeht, unterscheidet sich Russlands Sicht erheblich von der des Westens.
Aus russischer Sicht haben die Proteste auf dem Maidan und der damit vorbereitete Staatsstreich der Ukraine nicht mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gebracht, sondern in die entgegengesetzte Richtung geführt: zu Gesetzlosigkeit und Gewalt gegen Journalisten, politische Gegner und normale Bürger. Das an die Macht geputschte Regime in Kiew wird von einer bewaffneten, extremistischen Minderheit beherrscht, die eine groß angelegte Repressionskampagne gegen ethnische Russen und andere Unerwünschte plant.
Aus der Sicht Russlands hat die Ukraine keine legitime Regierung, weil die Demonstranten einen demokratisch gewählten Präsidenten gestürzt haben.
Aus unserer Sicht ist die Ukraine nicht mehr souverän, weil die Vereinigten Staaten hinter den Kulissen eine ihnen genehme Clique an die Macht gehievt haben. Wäre der wenig bekannte Oleksandr Turtschynow amtierender Präsident geworden, wenn Victoria Nuland, die Staatssekretärin aus dem US-Außenministerium, Vitali Klitscho, der diesen Posten auch haben wollte, nicht ausgetrickst hätte? Und warum wurde Arsenij Jazenjuk, der in der Ukraine kaum bekannt aber Frau Nulands Favorit war, Ministerpräsident?
Die Pläne, die Frau Nuland für die Ukraine hatte, kamen durch ein abgehörtes Telefongespräch schon mehrere Wochen vor dem per Staatsstreich herbeigeführten Sturz des Präsidenten Wiktor Yanukowytsch ans Licht. (s. hier).
Aus russischer Sicht wurden die ukrainischen Abgeordneten gezwungen, für Minister zu stimmen, die sie überhaupt nicht kannten. In der neuen Ukraine, die in Wirklichkeit von einer Junta und verschiedenen Milizen beherrscht wird, geht offensichtlich Gewalt vor Recht. Neben Turtschynow und Jazenjuk gehört zu dieser Junta auch noch Andrij Parubij, der Chef des Nationalen Sicherheits- und
Verteidigungsrates. Der war auch schon Chef der Maidan-Selbstverteidigungskräfte, einer bewaffneten Gruppe, die offensichtlich bereits im Februar im Auftrag Washingtons die Führung (auf dem Maidan) übernommen hat. Der Junta gehören außerdem noch Dmytro Jarosch und (der Svoboda-Vorsitzende) Oleh Tjahnybok an, die den neonazistischen Rechten Sektor beziehungsweise die bewaffneten Svoboda-Milizen kontrollieren. (s. hier).
Wer sind diese Junta-Führer? Vom Westen werden sie als Nationalisten bezeichnet, obwohl sie an ihren Emblemen leicht als Neonazis zu erkennen sind. Sie berufen sich auf die Faschisten des Zweiten Weltkriegs und bekennen sich offen zu Stepan Bandera, Roman Schuchewytsch und dem faschistischen Theoretiker Dmitry Dontsov.
Bandera und Schuchewytsch haben Hitler den Treueeid geleistet. 1941 kamen sie mit der Wehrmacht als Kollaborateure des SD, des SS-Sicherheitsdienstes, in die Ukraine. Der SD stattete seine ukrainischen Kollaborateure mit Waffen und Munition aus und beschäftigte sie in der Verwaltung der besetzten Gebiete. In deutschem Auftrag kämpften sie auch gegen sowjetische Partisanen.
Während der drei Jahre, die Bandera später in dem deutschen Konzentrationslager (Sachsenhausen) verbrachte, wurde er gut versorgt; er hatte sogar ein Radio und Zugang zu einer Bibliothek. 1944 wurde Bandera auf Veranlassung des SS-Führers Heinrich Himmler aus der Haft entlassen und – mit Waffen und Geld ausgestattet – wieder als Kollaborateur
aktiv.
Auch während des Kalten Krieges setzten die USA und ihre Verbündeten Anhänger Banderas im verdeckten Kampf gegen die Sowjetunion ein, obwohl sie über deren Kollaboration mit den Nazis Bescheid wussten. In Russland werden diese "Bandera-Leute" immer noch als Komplizen Hitlers und als Faschisten angesehen. Schuchewytsch führte zeitweise das berüchtigte Strafbataillon Nachtigall und war für den Massenmord an Juden und anderen Zivilisten (im damals noch polnischen Lemberg und in Weißrussland) verantwortlich.
Auch heute noch hängen der Rechte Sektor und die Organisationen der Svoboda der Ideologie der Nazis an und bedienen sich auch ihrer Praktiken. Sie tragen stilisierte Nazi-Symbole und Nazi-Fahnen und benutzen den Nazi-Gruß "Ruhm der Ukraine – Ruhm ihren Helden!", der ihre Nähe zu der Bandera-Bewegung belegt. Die beiden führenden Extremistengruppen der Ukraine predigen Antisemitismus, Hass auf die Nachbarvölker – vor allem auf die Russen – und den gewaltsamen Kampf gegen ihre Gegner; sie glorifizieren ihre Nazi-Veteranen und leugnen die Nazi-Verbrechen.
Die Svoboda-Anhänger und der Rechte Sektor sind nicht nur radikale Nationalisten, sondern überzeugte Neonazis, die sich (mit Unterstützung aus den USA und aus der Bundesrepublik Deutschland) an die Macht geputscht haben und jetzt vor allem die Strafverfolgungsbehörden der Ukraine kontrollieren.
In der Ukraine gab es bereits vor der rechten Machtübernahme Dutzende von politischen Gefangenen. Schon am ersten Tag nach der Machtergreifung hoben die angeblich pro-europäischen Putschisten den von der Charta der Europäischen Union garantierten Schutz für Regional- oder Minderheitssprachen auf, löschten die russischsprachige Version von Behörden-Websites und verboten Lehrern, auf Russisch zu unterrichten. Als sich der Verfassungsgerichtshof der Ukraine weigerte, den Staatsstreich der Putschisten als legal anzuerkennen, lösten sie das Gericht auf und leiteten Strafverfahren gegen seine Richter ein. Aus realistischer russischer Sicht haben die bewaffneten Neonazis in (der zweitgrößten ukrainischen Stadt) Charkow auch auf (pro-russische) Demonstranten geschossen und erhielten dann von ukrainischen Behörden sicheres Geleit zurück nach Kiew.
Angesichts dieser Realität handeln die USA und die Europäische Union sehr unvernünftig, wenn sie die Ukrainer den Extremisten in Kiew überlassen und deren kriminelle Führer unterstützen. Was die Sanktionen gegen Personen angeht, kann irgendjemand erklären, warum Andrei Fursenko, ein Mitarbeiter Putins und ehemaliger Minister, in die Liste aufgenommen wurde? Ist das nur deshalb geschehen, weil er eine Datscha auf der Kooperative Ozero besitzt? Die Liste der Sanktionierten scheint direkt aus einem Artikel kopiert worden zu sein, den Putin-Kritiker Alexei Navalny letzte Woche in der New York Times veröffentlicht hat, bevor die Namen bekannt gegeben wurden. Vielleicht wollte das US-Außenministerium ja auch nur den Einfluss Navalnys in Russland stärken?
Aus russischer Sicht deutet vieles darauf hin, dass die USA und die EU der russischen Opposition helfen wollen, Putin zu stürzen und auch in Moskau eine Regierung im Maidan-Stil zu installieren.
Wie könnte der Westen versuchen, auch in Moskau einen ähnlichen Coup zu landen? Zunächst wird er in Kiew einen antirussischen Hitzkopf inthronisieren, der dem ehemaligen georgischen Präsidenten Micheil Saakaschwiliähnelt und bereitwillig alles tut, was der Westen von ihm verlangt. Dann wird er die ukrainische Armee aufrüsten und sie 2017 – am Vorabend der Präsidentschaftswahl in Russland – auf die russische Krim hetzen – wie er 2008 georgische Truppen auf Südossetien gehetzt hat. Hofft der Westen wirklich, dass Putin eine derartige militärische Aggression gegen Russland einfach passiv hinnehmen würde?
Russland hat ja eine Kompromisslösung für die Ukraine angeboten. Es hat die sofortige Bildung einer neuen Koalitionsregierung, die Entwaffnung der Extremisten, Ultranationalisten und Faschisten, die Errichtung eines föderalistischen Systems, die von der Verfassung garantierte Gleichberechtigung der ukrainischen und der russischen Sprache und die baldige Durchführung ehrlicher und fairer Wahlen gefordert. Stattdessen setzen die USA und die EU ihre Drohungen fort und beharren darauf, dass Russland den gegenwärtigen Zustand akzeptieren solle.
Glauben die führenden westlichen Politiker wirklich, dass Putin ihre verdrehte Sicht der Realität akzeptieren könnte? Sollte der Westen darauf bestehen, dass Putin kapituliert, lässt er ihm keine andere Wahl, als sich mit Gewalt zur Wehr zu setzen.
Auch unter Bedrängnis hat Russland nie kapituliert, sondern immer gekämpft.
(Luftpost-kl.de hat den Artikel, der im Westen mit der verfälschenden Schlagzeile"Lieber Krieg als Kapitulation" kolportiert wurde, komplett übersetzt und mit Ergänzungen und Links in Klammern versehen. Infos über den Autor – leider in englischer Sprache – sind hier aufzurufen.)