Autor: Chris Hedges truthdig, 30. April 2012 Übersetzung: Einar Schlereth |
Das Streben einer bankrotten Elite in den letzten Tagen des Imperiums, immer größeren und größeren Reichtum anzuhäufen, wie Karl Marx bemerkte, ist die Version eines primitiven Fetischismus der modernen Gesellschaft. Dieses Streben, da es immer weniger auszubeuten gibt, führt zu einer zunehmenden Unterdrückung, zunehmenden menschlichen Leiden, einem Kollaps der Infrastruktur und am Ende zum kollektiven Tod. Es sind die sich selbst Täuschenden, jene an der Wall Street oder unter der politischen Elite, jene, die uns unterhalten und informieren jene, denen die Fähigkeit fehlt, die Begierden in Frage zu stellen, die unsere Selbst-Vernichtung garantieren, die als Exemplare von Intelligenz, Erfolg und Forschritt gepriesen werden. Die Weltgesundheitsorganisation kalkuliert, dass eine von vier Personen in den USA unter chronischer Angst, Gemütsstörung oder Depression leidet – was für mich eine normale Reaktion zu sein scheint auf unserem Marsch zum kollektiven Selbstmord. Willkommen im Irrenhaus.
Wenn die grundlegendsten Elemente, die das Leben erhalten, zur Geldware werden, hat das Leben keinen eigentlichen Wert. Die Auslöschung „primitiver“ Gesellschaften, die durch Animismus und Mystizismus definiert wurden, die den zentralen Wert menschlicher Vorstellungskraft respektierten, beseitigte das einzige ideologische Gegengewicht zu einer selbstverschlingenden kapialistischen Ideologie. Jene, die vormoderne Religionen hatten wie die Indigenen Amerikas, die sich dem Leben in der Gemeinschaft und Selbsthingabe widmeten statt dem Raffen und Lohnausbeutung, konnten nicht eingegliedert werden in die Ethik der kapitalistischen Ausbeutung, dem Kult des Selbst und der Lust auf imperiale Expansion. Das Prosaische stand dem Allegorischen gegenüber. Statt dem Kollaps des Ökosystems des Planeten entgegenzurasen, müssen wir diese ältere Vision vom Leben wiederherstellen, wenn wir überleben wollen.
Der Krieg gegen die indigenen Amerikaner, wie die Kriege der Kolonialisten in der ganzen Welt, wurden nicht nur geführt, um Völker auszulöschen sondern auch eine konkurrierende Ethik. Die ältere Form der menschlichen Gemeinschaft war antithetisch und feindlich gegenüber dem Kapitalismus, dem Primat des technologischen Staates und den Forderungen des Imperiums.
Dieser Kampf zwischen Glaubenssystemen ist Marx nicht entgangen. „Die Ethnologischen Notizbücher von Karl Marx“ enthalten eine Serie von Beobachtungen, die aus der Lektüre von Marx der Werke von Historikern und Anthropologen stammten. Er machte Notizen über Traditionen, Praktiken, Sozialstruktur, ökonomische Systeme und Glaubens-Vorstellungen zahlreicher indigener Kulturen, die ihrer Zerstörung entgegensahen. Marx notierte geheime Details über die Bildung von der Einheimischen Amerikanischen Gesellschaft, aber auch, dass „das Land im gemeinsamen Besitz der Stämme war und Wohnhäuser im gemeinsamen Besitz ihrer Bewohner“. Er schrieb von den Azteken und ihrem „Land in Gemeinde-Besitz; dem Leben in großen Haushalten, die aus einer Anzahl verwandter Familien bestanden“. Er fuhr fort, „ … Gründe anzunehmen, dass sie in den Haushalten den Kommunismus praktizierten“. Die indigenen Amerikaner, besonders die Irokesen, lieferten das Regierungsmodell für die 'Union der amerikanischen Kolonien' und waren auch wichtig für die Vision von Marx und Engels vom Kommunismus.
Marx, obwohl er einen naiven Glauben an die Macht des Staates hatte, seine Utopie der Arbeiter zu schaffen und wichtige soziale und kulturelle Kräfte außerhalb der Ökonomie nicht berücksichtigte, war sich sehr bewusst, dass etwas Wesentliches für die menschliche Würde und Unabhängigkeit verlorenging mit der Zerstörung der vor-modernen Gesellschaften. Der Irokesenrat der Gentes, wo die Indianer zusammenkamen, um gehört zu werden wie es die alten Athener taten, war, wie Marx notierte, eine „demokratische Versammlung, wo jedes erwachsene männliche und weibliche Mitglied eine Stimme hatte in allen Fragen, die vorgebracht wurden“. Marx lobte die aktive Teilnahme der Frauen an den Stammesangelegenheiten und schrieb „Den Frauen [war] es erlaubt, ihre Wünsche und Meinungen durch eine Sprecherin ihrer Wahl auszudrücken. Entscheidungen traf der Rat. Einstimmigkeit war das grundlegende Gesetz der Handlung bei den Irokesen“. Die europäischen Frauen auf dem Kontinent und in den Kolonien hatten keine solche Macht.
Bild: Slum-Bewohner in Jakarta Wikimedia, Public domain |
Die europäische Philosophie des 17. Jh. und die Aufklärung verherrlichten jedoch die Trennung der Menschen von der natürlichen Welt, ein Glaube, der auch von der Bibel geteilt wird. Die natürliche Welt zusammen mit jenen vormodernen Gesellschaften, die in Harmonie mit ihr lebten, wurden von der industriellen Gesellschaft der Aufklärung nur der Ausbeutung für wert gehalten. Descartes argumentierte z. B., dass die volle Ausbeutung der Materie für jedweden Gebrauch die Pflicht der Menschheit wäre. Die Wildnis wurde, in der religiösen Sprache der Puritaner, satanisch. Sie musste christianisiert und unterworfen werden. Die Durchsetzung der technischen Ordnung resultierte, wie Richard Slotkin in „Regeneration Through Violence“ (Regenerierung durch Gewalt) schreibt, in der Vorrangstellung des „westlichen Karrieremannes, des Spekulanten und des fragwürdigen Bankers“. Davy Crockett und später George Armstrong Custer, bemerkt Slotkin, wurden „nationale Helden, indem sie nationale Ziele definierten im Sinne von soundsovielen Bären getötet, soundsoviel Land erworben und soundsoviele Bäume gefällt, soundsoviele Indianer und Mexikaner in den Staub gelegt“.
Das irrsinnige Projekt der endlosen kapitalistischen Expansion, des verschwenderischen Konsums, der sinnlosen Ausbeutung und des industriellen Wachstums ist jetzt am Implodieren. Die Abzocker der Multis sind ebenso blind für die Auswirkungen ihrer selbstzerstörerischen Wut wie Custer, die Goldspekulanten und die Eisenbahnmagnaten es waren. Sie rissen das indianische Land an sich, töteten seine Bewohner, metzelten die Büffelherden nieder und fällten die Wälder. Ihre Erben führen Kriege im ganzen Nahen Osten, verschmutzen die Meere und die Wassersysteme, vergiften die Luft und die Böden und spielen mit Rohstoffen, während der Globus in furchtbare Armut und Elend versinkt. Das Buch der Offenbarung definiert diese unbeirrbare Gier nach Profit als Übergabe der Autorität an das „Ungeheuer“.
Die Verschmelzung von technologischen Erfolgen mit dem menschlichen Fortschritt führt zur Selbst-Anbetung. Vernunft macht Berechnungen möglich, Wissenschaft und technologische Erfolge der industriellen Zivilisation, aber Vernunft verbindet uns nicht mit den Kräften des Lebens. Eine Gesellschaft, die die Fähigkeit für das Heilige verliert, der die Macht der menschlichen Vorstellungskraft fehlt, die keine Empathie empfindet, sichert letztlich ihre eigene Zerstörung. Die indigenen Amerikaner verstanden, dass es Mächte und Kräfte gibt, die wir niemals kontrollieren können und verehren müssen. Sie wussten, wie die alten Griechen, dass Selbstüberschätzung der tödlichste Fluch der menschlichen Rasse ist. Dies ist eine Lektion, die wir wahrscheinlich für uns lernen müssen auf Kosten von ungeheurem Leiden.
In William Shakespeares „Der Sturm“ ist Prospero auf einer Insel gestrandet, wo er zum unbestrittenen Herrn und Meister wird. Er versklavt das primitive „Monster“ Caliban. Er wendet die magischen Machtquellen an, die im Geist Ariel verkörpert sind und die aus Feuer und Luft bestehen. Die Kräfte, die in der Wildnis der Insel entfesselt wurden, das wusste Shakespeare, könnten zu unserem Nutzen sein, wenn wir die Fähigkeit zur Selbstkontrolle und Ehrfurcht hätten. Aber sie können uns auch zum monströsen Bösen treiben, da es kaum Hemmungen gibt, Plünderung, Vergewaltigung, Mord, Gier und Macht zu zügeln. Später sollte Joseph Conrad in seinen Portraits der Vorposten des Imperiums denselben giftigen Rausch mit Barbarei gleichsetzen.
Der Anthropologe Lewis Henry Morgan, der 1846 von den Seneca, eins der fünf Völker des Irokesenverbundes, „adoptiert“ wurde, schrieb in „Ancient Society“ über die soziale Evolution unter amerikanischen Indianern. Marx notierte zustimmend in seinen „Ethnologischen Notizbüchern“, die Betonung von Morgan der historischen und sozialen Bedeutung der „Vorstellungskraft, die große Fähigkeit, die so viel zur Erhebung der Menschheit beigetragen hat“. Die Vorstellungskraft, wie der Shakespeare-Schüler Harold C. Goddard hervorhob, „ist weder die Sprache der Natur noch die Sprache des Menschen, sondern beides gleichzeitig, das Medium der Kommunion der beiden … Die Vorstellungskraft ist die Elementarsprache in jeder Hinsicht, die erste und die letzte, des primitiven Menschen und der Dichter.“
Alles, was mit Schönheit und Wahrheit zu tun hat, mit den Kräften, die die Kraft haben, uns zu verändern, werden stetig von dem Staat der Multis zerstört. Kunst. Erziehung. Literatur. Musik. Theater. Tanz. Poesie. Philosophie. Religion. Journalismus. Keine dieser Disziplinen ist im korporativen Staat der Unterstützung oder der Vergütung wert. Dies sind Aktivitäten, die selbst an unseren Universitäten als unpraktisch verdammt werden. Aber es ist gerade durch dies Unpraktische, durch das unsere Vorstellungskraft gestärkt wird, wordurch wir als Spezies gerettet werden können. Die prosaische Welt der Nachrichten, das Sammeln von wissenschaftlichen und faktischen Daten, Börsen-Statistiken und das sterile Aufzeichnen von Taten als Geschichte erlaubt uns nicht, die elementare Sprache der Vorstellungskraft zu verstehen. Wir werden niemals in das Mysterium der Schöpfung eindringen oder den Sinn der Existenz, wenn wir nicht diese ältere Sprache wiederentdecken. Poesie zeigt dem Menschen seine Seele, schrieb Goddard, „wie ein Spiegel das Gesicht“. Und es sind unsere Seelen, die die Kultur des Imperialismus, des business und der Technologie zu zerstören sucht.
Walter Benjaminsagte, dass der Kapitalismus nicht nur eine „von Religion bedingte“ Einrichtung ist, sondern ein „wesentlich religiöses Phänomen“ sei, wenn auch eines, das nicht mehr versucht, die Menschen mit den geheimnisvollen Kräften des Lebens zu verknüpfen. Der Kapitalismus, wie Benjamin bemerkte, fordert die menschlichen Gesellschaften auf, unaufhörlich und vergeblich nach Geld und Gütern zu streben. Dieses Streben, warnte er, verewigt eine Kultur, die von Schuld beherrscht wird, einem Gefühl von Ungenügen und Selbsthass. Sie versklavt beinahe alle ihre Anhänger durch Löhne, Unterwürfigkeit gegenüber der Warenkultur und Schuldknechtschaft. Das Leiden der indigenen Amerikaner, als die Expansion nach Westen beendet war, mussten bald auch andere erdulden, in Kuba, den Philippinen, Nicaragua, der Dominikanischen Republik, Vietnam, Irak und Afghanistan. Des Schlusskapitel dieses traurigen Experiments der menschlichen Geschichte wird uns geopfert sehen, so wie jene am Rande des Imperiums geopfert wurden. Darin liegt eine Art von Gerechtigkeit. Wir profitierten als Nation von dieser irrsinnigen Vision, wir blieben passiv und schweigend, als wir diese Verbrechen in unserem Namen hätten verurteilen sollen, und jetzt, wo das Spiel zu Ende geht, gehen wir alle gemeinsam unter.
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